Meinung

Der Westen zerstört sich selbst

In den vergangenen Jahren waren vor allem die Eliten des Wertewestens unübertroffen in ihrer Fähigkeit, sich selbst in den Fuß zu schießen. Man hätte erwarten können, dass Schaden klug macht. Aber stattdessen haben sie nicht aufgehört, diese Fähigkeit, weiter zu perfektionieren. In dieser Woche lieferten sie ein weiteres Beispiel.
Der Westen zerstört sich selbstQuelle: Legion-media.ru © APAimages

Von Rainer Rupp

Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Karim Khan, kündigte am Montag, dem 20. Mai, Haftbefehle gegen Netanjahu und Galant wegen ihrer Rolle bei der Abschlachtung der Palästinenser im Gazastreifen an, was implizit auch US-Außenminister Blinken und andere hochrangige US-Beamte, aber auch Baerbock und Co. der Beihilfe der israelischen Verbrechen bezichtigt. Zugleich verlangte Ankläger Khan Haftbefehle für drei Hamas-Führer wegen des Angriffs auf Südisrael am 7. Oktober und der Geiselnahme.

Die Haftbefehle waren noch nicht ausgestellt, als die amerikanische Führung und der US-Kongress dem IStGH bereits empört Antisemitismus vorwarfen und dem Gericht und den Richtern persönlich mit Sanktionen drohten. Unglaublich, aber wahr: Im Kongress wird derzeit ein entsprechendes Gesetz gegen das Gericht vorbereitet und es besteht kein Zweifel, dass es verabschiedet werden wird.

Am Dienstag dieser Woche, dem 21. Mai, berichtete CNN, dass US-Außenminister Antony Blinken, der amerikanische Baerbock, öffentlich erklärt hat, er wolle mit dem US-Kongress an einem Gesetz arbeiten, um den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) dafür zu bestrafen, dass er Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und seinen Verteidigungsminister Joaw Galant beantragt hat.

In einer Anhörung des Senatsausschusses für auswärtige Beziehungen war Blinken von dem republikanischen Senator Jim Risch gefragt worden, ob er das Gesetz zur Bestrafung des IStGH unterstützt, weil der Gerichtshof "seine Nase in die Angelegenheiten von Ländern steckt, die über ein unabhängiges, legitimes demokratisches Rechtssystem verfügen". Blinken stimmte zu und bekräftigte, "dass wir (das Weiße Haus und der Senat) die geeigneten Schritte ergreifen müssen, um mit dieser zutiefst falschen Entscheidung (des IStGH) umzugehen".

Der IStGH war schon einmal wegen seiner Pläne, mutmaßliche US-Kriegsverbrechen in Afghanistan zu untersuchen, von den USA unter der Trump-Administration sanktioniert worden. Die Biden-Regierung hob die Sanktionen gegen den Gerichtshof bei ihrem Amtsantritt auf. Aber der Druck der USA bewirkte, dass der Gerichtshof ankündigte, nicht länger die US-Kriegsverbrechen in Afghanistan zu untersuchen, sondern sich stattdessen auf die der Taliban und ISIS-K zu konzentrieren.

Offiziell sind die USA der Ansicht, dass der IStGH nicht für die Verfolgung israelischer Führer zuständig ist, da Israel kein Mitglied des Gerichtshofs ist. Die USA, Russland und die Ukraine sind das auch nicht. Die Palästina-Behörde ist zwar noch kein UN-Vollmitglied, aber sie hat das Römische Statut unterzeichnet und ist damit Mitglied des IStGH.

Wegen der Bemühungen des IStGH gegen die rechtsextremistischen israelischen-Führer bereiten die USA ein Gesetz zur Bestrafung des IStGH vor, während dieselben Leute in Washington den Haftbefehl des IStGH gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin bejubeln, der überhaupt erst unter dem kollektiven Druck von US/NATO/EU zustande gekommen ist. Diese erneute Demonstration krasser westlicher Doppelzüngigkeit bleibt weder der internationalen Gemeinschaft verborgen noch jenem Teil der Menschen, die zwar im Westen leben, aber noch nicht Opfer der dort herrschenden, zunehmend totalitären Gehirnwäsche geworden sind.

Dessen ungeachtet ziehen in den USA die Unterstützer des zionistischen Genozids in Gaza jetzt eine Wagenburg um die Kriegsverbrecher Netanjahu und seinen Kriegsminister Galant.

Mit einigen wenigen Ausnahmen herrscht in der politischen Kaste des kollektiven Westens große Empörung über den IStGH. Forderungen, den Gerichtshof zu bestrafen, kommen nicht nur aus den USA. Vor dem Hintergrund des politischen Einflusses mächtiger zionistischer Lobbyverbände im kollektiven Westen, vor allem in den USA, war die Aufregung über den beantragten Haftbefehl gegen die Top-Zionisten an der Spitze der israelischen Regierung natürlich keine Überraschung.

Sofort sprang die mächtige Propagandamaschine an, die auf dem im Westen bereits fest verankerten Glaubenssatz basiert, dass Juden per Definition Opfer sind und keine Verbrechen begehen können; und implizit trifft dies natürlich auch auf gewalttätig-rassistische und rechtsextremistische Zionisten wie Netanjahu und Galant zu. Außerdem hatte Netanjahu noch vor wenigen Monaten allen besorgten Beobachtern versichert, dass "die israelische Armee die humanitärste der Welt ist".

Das wäre alles gut und schön, wenn es da nicht die Tatsache der 35.000 getöteten und über 70.000 schwer verwundeten Zivilisten in Gaza gäbe, darunter 15.000 getötete Kinder und Babys. Die Doppelmoral des Westens rückt besonders scharf in den Fokus, wenn man sich vor diesem Hintergrund vor Augen führt, wie der kollektive Westen den Haftbefehl des IStGH gegen Wladimir Putin wegen der lächerlichen Anklage der angeblichen "Entführung ukrainischer Kinder" bejubelt hat.

Was war geschehen: Vor der Kulisse des Krieges in der Ukraine hatten die vorrückenden russischen Soldaten in der Kriegszone allein zurückgelassene Kinder entlang der Frontlinie eingesammelt und in Kinderheime in Russland in Sicherheit gebracht. Die Namen der Kinder und die Ortschaften, wo sie gefunden worden waren, hatten die Russen auf Listen veröffentlicht. Alle ukrainischen Eltern, die sich – über Umwege – bei den Russen gemeldet haben, haben ihre verlorenen Kinder wiederbekommen. Das war schon damals bekannt. Trotzdem haben eifrige und juristisch kreative West-Propagandisten daraus einen Fall russischer Kindesentführung konstruiert, wobei Putin als Hauptbeschuldigter des Kriegsverbrechens angeklagt und vom IStGH entsprechend verurteilt wurde.

Deshalb ist der russische Präsident ein international gesuchter Kriegsverbrecher, und die US/NATO/EU-Propagandisten nutzten den Haftbefehl, um Putins Reisen zu internationalen Gipfeltreffen (zum Beispiel in Südafrika) zu behindern. Doch sobald die Vorwürfe gegen Netanjahu erhoben wurden, änderte sich das alles schlagartig: Die Vorwürfe gegen Netanjahu und Galant seien "weit hergeholte, unberechtigte Entscheidungen", das sei "Antisemitismus" und so weiter.

Aber im Unterschied zu Putin hat Netanjahu das Blut zehntausender palästinensischer Kinder an seinen Händen, und es ist schwer, sein Handeln in Gaza nicht als Völkermord zu bezeichnen. Und dies wird nicht nur von den Ländern des Globalen Südens, sondern auch von vielen westlichen Juristen so gesehen. Daher war die Entscheidung des IStGH absehbar, wenn das Gericht nach der Verurteilung Putins auf der internationalen Bühne nicht auch noch den letzten Rest an Glaubwürdigkeit verlieren wollte.

Nun wäre die vernünftigste Reaktion für die westlichen Propagandisten gewesen, zu schweigen. Aber stattdessen erleben wir Drohungen und Verurteilungen gegen das Gericht. Außerdem wird offen gesagt, dass der Gerichtshof nicht versteht, was er tut. Schließlich sei er nicht zum Zweck der Verurteilung prowestlicher Verbrecher geschaffen worden! Dies wird zwar nicht öffentlich gesagt, aber westliche Politiker haben sich nicht gescheut, dies in Gesprächen mit dem IStGH-Ankläger Karim Khan zu äußern. Khan selbst sagte in einem Interview mit Christiane Amanpour vom US-Nachrichtensender CNN:

"Ich wurde von einigen gewählten westlichen Vertretern kontaktiert. Sie waren sehr offen und sagten: 'Dieser Gerichtshof wurde für Afrika und für Schurken wie Putin geschaffen'".

Damit wurde offen ausgesprochen, was man schon lange weiß: Der Internationale Strafgerichtshof ist keine UNO-Organisation, sondern er wurde vom Westen geschaffen, um über Nichtwestler zu urteilen und westliche Kriegsverbrecher wie Tony Blair, George W. Bush, Gerhard Schröder, Joschka Fischer und viele andere zu schützen. Das gilt auch für die Zio-Kriegsverbrecher, denn Israel gehört zum geopolitischen Westen.

Deshalb ist es einfach unanständig und nicht hinnehmbar, wenn der IStGH gegen westliche Herrenmenschen ermittelt. Das ist Neokolonialismus in seiner reinsten Form. Und mit der Hysterie über den drohenden Haftbefehl gegen Netanjahu demonstrierten die westlichen Eliten der Welt einmal mehr ihre Doppelzüngigkeit – und das in einer Situation, in der die Weltmehrheit ohnehin bereits von der Doppelmoral des Westens absolut überzeugt ist.

Aber was erklärt dieses schizophrene Verhalten der westlichen Eliten? Sie scheinen in ihrer eigenen Vorstellungswelt gefangen zu sein, in der sie sich wie früher alles erlauben konnten, was sie anderen verboten haben. In der Vergangenheit hatten sie allerdings noch die Macht und das Prestige, anderen die eigenen Lügen als Wahrheit zu verkaufen oder aufzuzwingen.

Inzwischen aber haben sich die Zeiten beziehungsweise die Machtverhältnisse geändert. Des Kaisers neue Kleider können die Falschheiten und Lügen nicht mehr verhüllen. Der westliche Kaiser steht nackt da und mit jeder neuen Lüge und mit jedem neuen Beweis seiner Doppelmoral zerstört er ein weiteres Stück seines noch verbliebenen Prestiges und Goodwills, die ihm geholfen haben, die Welt zu kontrollieren.

Und damit wären wir bei der zweiten, noch wichtigeren Konsequenz der westlichen Reaktion auf den IStGH-Beschluss, nämlich die Demontage der vom Westen geschaffenen Institutionen der Globalisierung.

Es liegt auf der Hand, dass die Glaubwürdigkeit des IStGH bereits untergraben war, und nachdem es den "Putin-Haftbefehl" gab, wurde das Gericht außerhalb des kollektiven Westens gänzlich als Instrument zur Ausübung von Druck auf Russland behandelt.

Der Fall Netanjahu bot dem IStGH jedoch die Chance einer teilweisen Rehabilitierung: Der Westen hätte den Ländern des Globalen Südens erklären können, dass der Gerichtshof versucht, objektiv zu sein. Das wäre selbstredend im Interesse des Westens gewesen, nicht nur im Kontext seiner Bemühungen um die Isolierung Russlands, sondern auch in Bezug auf die Propaganda und sicherlich auch, um den russisch-chinesischen Bemühungen entgegenzuwirken, den Süden auf einer antikolonialen, das heißt antiwestlichen Plattform zu vereinen.

Aber anstatt zu versuchen, den IStGH zu retten, ist der Westen gerade dabei, ihm den Gnadenschuss zu geben, womit er jedoch seinen eigenen Untergang beschleunigt. Warum macht er das?

Aus Verzweiflung! Er sieht, wie seine hegemoniale Position dahinschmilzt wie Schnee in der Frühlingssonne. Die will er aber auf Teufel komm raus mit Zähnen und Klauen verteidigen. Die zutage tretenden, zunehmend skrupellosen und widersprüchlichen Aktionen untergraben jedoch nur noch mehr die Fundamente der westlichen Hegemonie. Sie gehen auf Kosten der Glaubwürdigkeit angeblich demokratischer internationaler Organisationen wie des IWF, der Weltbank, der WTO, der NATO oder der EU, die die West-Eliten zum Management ihrer globalen Vorherrschaft geschaffen hatten.

Auch der IStGH war ein wesentlicher Teil eines weiteren vom Westen aufgebauten institutionellen Rahmens, nämlich der internationalen und teilweise bereits supranationalen Justiz. Sie spielte eine wichtige Rolle im Prozess der Globalisierung nach angelsächsischem Vorbild. Auch darüber verliert der Westen zunehmend die Kontrolle.

Die Ironie des Schicksals besteht nun darin, dass der Westen sich bei jedem Versuch, den weltgeschichtlichen Wandel aufzuhalten, selbst in den Fuß schießt. Dies ist bereits mit der Sanktionspolitik gegen Russland, aber auch gegen Iran oder China, mehr als deutlich geworden. Indem jetzt russische Vermögenswerte beschlagnahmt werden, untergräbt der Westen endgültig das Vertrauen in die westlichen Währungen und somit in die Haupt-Säule seiner globalen Dominanz – das internationale Finanzsystem.

Allerdings wird der Prozess der Umstrukturierung dieses internationalen Finanzsystems nicht von heute auf morgen geschehen, aber er ist bereits jetzt unumkehrbar. Mit dem zunehmenden Verlust der Kontrolle über die internationalen Finanzen, über den internationalen Handel und über die internationale Justiz wird die globale Herrschaft für den Westen immer schwieriger. Der Prozess ist unumkehrbar und darin liegt auch der Grund für die verwirrenden Handlungen der westlichen Eliten. Das ist offensichtlich ein Ausdruck von Panik, wodurch sie ihre Weltherrschaft mit eigenen Händen zerstören.

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